DIE BESTIMMUNG

Leseprobe

„Die Bestimmung - Tödliche Wahrheit“ von Veronica Roth (Kapitel 6)

Ich wache vom Summen eines Elektrorasierers auf. Vor dem Spiegel steht Tobias, den Kopf schräg gelegt, damit er die Kante seines Kinns sehen kann.
Ich ziehe die Knie unter der Bettdecke an und schaue ihm zu.
»Guten Morgen«, sagt er. »Wie hast du geschlafen?«
»Ganz gut.« Ich stehe auf, und als er seinen Kopf zurücklehnt, um sein Kinn zu rasieren, lege ich meine Arme um ihn und drücke meine Stirn gegen seinen Rücken, da wo das Ferox-Tattoo unter seinem T-Shirt hervorschaut.
Er legt den Rasierapparat weg und bedeckt meine Hände mit seinen. Keiner von uns stört die Stille. Ich höre, wie er atmet; sanft streichelt er über meine Finger und vergisst ganz, womit er gerade beschäftigt gewesen ist.
»Ich sollte mich fertig machen«, sage ich nach einer Weile. Widerstrebend lasse ich ihn los, aber heute bin ich in die Wäscherei abkommandiert, und ich will mir von den Amite nicht nachsagen lassen, dass ich meinen Teil unserer Abmachung nicht einhalte.
»Ich besorge dir was zum Anziehen«, sagt er.
Barfuß gehe ich ein paar Minuten später den Gang entlang; ich habe das T-Shirt an, in dem ich geschlafen habe, und Shorts, die Tobias von den Amite geliehen hat. Als ich mein Schlafzimmer betrete, steht Peter neben meinem Bett.
Sofort spanne ich alle Muskeln an und suche im Zimmer nach einem stumpfen Gegenstand.
»Verschwinde«, sage ich so entschieden wie möglich, aber es ist schwer, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. Unwillkürlich muss ich wieder an den Ausdruck in seinen Augen denken, als er mich über den Abgrund gehalten oder mich im Hauptquartier der Ferox gegen die Wand geschleudert hat.
Er sieht mich an. In letzter Zeit fehlt seinem Blick das Bösartige, stattdessen wirkt er nur noch erschöpft, zusammengesunken, sein verletzter Arm steckt in einer Schlinge. Aber ich lasse mich davon nicht täuschen.
»Was hast du in meinem Zimmer zu suchen?«
Er kommt näher. »Weshalb schleichst du Marcus hinterher? Ich habe dich gestern nach dem Frühstück beobachtet.«
Ich halte seinem durchdringenden Blick stand. »Das geht dich nichts an. Verschwinde.«
»Ich bin hier, weil ich mich frage, warum man ausgerechnet dir diese Festplatte anvertraut hat«, sagt er. »Es ist ja nicht so, als wärst du im Moment besonders stabil.«
»Ich und nicht stabil?« Ich lache spöttisch. »Das sagt gerade der Richtige.«
Peter presst die Lippen aufeinander und erwidert nichts.
Ich kneife die Augen zusammen. »Weshalb interessiert du dich so für die Festplatte?«
»Ich bin nicht dumm«, sagt er. »Ich weiß, dass da mehr drauf ist als nur die Daten von der Simulation.«
»Nein, dumm bist du nicht«, antworte ich. »Du glaubst, wenn du sie den Ken zurückbringst, werden sie dir deinen Verrat verzeihen und dich wieder gnädig in ihren Reihen aufnehmen.«
»Ich will gar nicht gnädig aufgenommen werden«, sagt er und kommt noch einen Schritt näher. »Wenn mir daran gelegen wäre, hätte ich dir damals bei den Ferox nicht geholfen.«
Ich tippe ihm mit dem Zeigefinger so fest gegen das Brustbein, dass sich mein Fingernagel in seine Haut bohrt. »Du hast mir nur geholfen, um zu verhindern, dass ich noch einmal schieße.«
»Ich bin vielleicht kein die Altruan liebender Fraktionsverräter.« Er packt meinen Finger. »Aber niemand schreibt mir etwas vor, am wenigsten die Ken.«
Rasch ziehe ich meine Hand zurück, damit er sie nicht länger festhalten kann. Meine Hände schwitzen.
»Ich erwarte gar nicht, dass du das verstehst.« Ich wische die Hände am Saum meines T-Shirts ab und bewege mich Richtung Kommode. »Ich bin sicher, wenn die Candor und nicht die Ferox angegriffen worden wären, dann hättest du ohne mit der Wimper zu zucken zugesehen, wie man deine Eltern tötet. Aber ich bin anders.«
»Sei vorsichtig, was du über meine Familie sagst, Stiff.« Er folgt mir zur Kommode, aber ich stelle mich absichtlich so, dass ich zwischen ihm und dem Möbelstück bin. Ich werde ihm garantiert nicht das Versteck der Festplatte verraten, indem ich sie in seiner Gegenwart hervorhole, aber zur Sicherheit möchte ich ihm den Weg dorthin verstellen.
Sein Blick fällt auf die Kommode hinter mir, auf die linke Seite, wo ich die Festplatte versteckt habe. Ich schaue ihn misstrauisch an, und plötzlich fällt mir etwas auf, das mir bisher entgangen ist: eine rechteckige Ausbuchtung in einer seiner Hosentaschen.
»Gib sie mir«, sage ich. »Sofort.«
»Nein.«
»Gib sie mir oder ich bringe dich im Schlaf um, das verspreche ich dir.«
Er feixt. »Du müsstest mal sehen, wie albern du wirkst, wenn du andere einschüchtern willst. Du bist wie ein kleines Mädchen, das droht, mich mit ihrem Hüpfseil zu erwürgen.«
Ich gehe auf ihn zu und er weicht zurück, auf den Gang hinaus.
»Sag nicht noch einmal kleines Mädchen zu mir.«
»Ich sage zu dir, was ich will.«
Blitzschnell ziele ich mit meiner linken Faust dorthin, wo es ihm am meisten wehtun wird, auf die Schusswunde an seinem Arm. Er weicht dem Schlag aus, aber statt erneut auszuholen, packe ich seinen Arm mit aller Kraft und drehe ihn zur Seite. Peter schreit wie am Spieß, und während er abgelenkt ist, trete ich ihm so fest gegen das Knie, dass er hinfällt.
Menschen kommen in den Gang, sie tragen Grau und Schwarz und Gelb und Rot. Peter schnellt halb im Liegen hoch und versetzt mir einen Schlag in den Magen. Ich krümme mich, aber der Schmerz hält mich nicht auf – ich stoße einen Schrei aus, der auch ein Stöhnen sein könnte, und stürze mich auf ihn, den linken Ellbogen angewinkelt, damit ich ihn in sein Gesicht rammen kann.
Ein Amite packt mich am Arm, halb zerrt, halb hebt er mich von Peter weg. Die Wunde in meiner Schulter pocht, aber das Adrenalin in meinen Adern überdeckt den Schmerz. Ich will mich losreißen, mich auf ihn werfen, ungeachtet der bestürzten Gesichter der Amite und Altruan – und nicht zuletzt auch Tobias –, als eine Frau sich neben Peter kniet und ihm mit beruhigender Stimme etwas ins Ohr flüstert. Ich versuche, sein Stöhnen zu ignorieren und die nagenden Schuldgefühle. Ich hasse ihn. Mir ist das egal. Ich hasse ihn.
»Tris, beruhige dich!«, sagt Tobias.
»Er hat die Festplatte!«, schreie ich. »Er hat sie mir gestohlen! Er hat sie!«
Tobias geht zu Peter; er beachtet die Frau neben ihm nicht und stellt seinen Fuß auf Peters Brust, damit er sich nicht rühren kann. Dann greift er in Peters Tasche und zieht die Festplatte hervor.
»Wir werden nicht immer in einem sicheren Unterschlupf sein«, sagt er gefährlich leise zu Peter. »Das war nicht sehr klug von dir.« Dann dreht er sich zu mir und fügt hinzu: »Von dir auch nicht. Willst du, dass man uns rauswirft?«
Ich mache ein finsteres Gesicht. Der Amite, der mich noch immer festhält, zieht mich den Gang entlang. Ich versuche, mich aus seinem Griff zu winden.
»Was soll das? Lass mich los!«
»Du hast unser Friedensabkommen gebrochen«, erwidert er sanft. »Wir müssen tun, was wir in solchen Fällen immer tun.«
»Geh einfach mit«, sagt Tobias. »Du musst dich beruhigen.«
Ich blicke in die Gesichter der Menschen, die sich inzwischen um uns versammelt haben. Niemand widerspricht Tobias, alle weichen meinem Blick aus. Also lasse ich mich von zwei Amite wegführen. »Pass auf, wo du hintrittst«, sagt einer. »Die Dielen sind hier ungleichmäßig.«
Mein Kopf dröhnt, ein Zeichen, dass ich allmählich ruhiger werde. Der Amite, dessen Haar schon leicht ergraut ist, öffnet links eine Tür. Daran ist ein Schild befestigt. KONFLIKTRAUM.
»Steckt ihr mich in eine Beruhigungszelle oder was?«, frage ich störrisch. Mich hier einzusperren, ist typisch Amite. Vermutlich werden sie mir auch noch sagen, dass ich reinigende Atemzüge machen und positiv denken soll.
Im Zimmer ist es so hell, dass ich blinzeln muss. Auf der gegenüberliegenden Seite sind große Fenster mit einem Ausblick auf den Obstgarten. Trotzdem wirkt der Raum klein, vermutlich weil Decke, Wände und Boden mit Holz getäfelt sind.
»Setz dich, bitte«, sagt der ältere der beiden und deutet auf einen Stuhl, der mitten im Zimmer steht. Er ist wie alle anderen Möbel hier aus rohen Brettern gezimmert und sieht so robust aus, als wäre das Holz noch immer draußen in der Erde verwurzelt. Ich setze mich nicht.
»Der Kampf ist vorüber«, sage ich. »Er wird sich nicht wiederholen. Nicht hier.«
»Wir müssen tun, was wir in solchen Fällen immer tun«, sagt der jüngere Mann. »Bitte setz dich, dann werden wir über den Vorfall sprechen und danach darfst du wieder gehen.«
Sie reden immer so sanft. Nicht gedämpft wie die Altruan, die andauernd so tun, als stünden sie gerade auf geheiligtem Boden und wollten niemanden stören. Sanft, beruhigend, leise. Ich frage mich, ob man das den Initianten hier beibringt. Wie man am besten redet, wie man sich am besten bewegt, am besten lächelt, um den Frieden zu wahren.
Ich möchte mich nicht setzen, aber ich lasse mich dann doch nieder, allerdings vorne auf der Stuhlkante, damit ich wenn nötig schnell wieder aufspringen kann. Der jüngere der beiden Männer stellt sich vor mich hin. Hinter mir knarrt eine Türangel. Ich blicke über die Schulter – der Ältere macht sich an einer Theke hinter mir zu schaffen.
»Was tust du da?«
»Ich mache Tee«, antwortet er.
»Ich bezweifle, dass Tee die Lösung für unsere Probleme ist.«
»Dann sag du es uns doch«, erwidert der Jüngere. »Was ist deiner Meinung nach die Lösung des Problems?«
»Peter muss verschwinden«, antworte ich und blicke wieder zum Fenster.
»Wenn ich mich nicht täusche«, sagt er mild, »bist du diejenige gewesen, die ihn angegriffen hat – und auch diejenige, die ihm in den Arm geschossen hat.«
»Ihr habt nicht die geringste Ahnung, wie sehr er das verdient hat.« Meine Wangen werden wieder heiß und mein Herz klopft schnell. »Er wollte mich umbringen. Und noch jemanden – er hat einem anderen ins Auge gestochen … mit einem Buttermesser. Er ist durch und durch böse. Ich hatte jedes Recht, ihn …«
Ich spüre einen scharfen Schmerz im Nacken, dann sehe ich nur noch dunkle Flecken, vor lauter Flecken sehe ich nicht einmal mehr das Gesicht des Mannes vor mir.
»Es tut mir leid, meine Liebe«, sagt er. »Wir müssen tun, was wir in solchen Fällen immer tun.«
Der ältere Mann hält eine Spritze in der Hand. Ein paar Tropfen der Flüssigkeit, die er mir gespritzt hat, sind noch immer darin. Sie ist hellgrün, wie Glas. Ich blinzle hastig und die dunklen Flecken verschwinden, aber die Welt vor mir verschwimmt, so als schaukelte ich wie verrückt in einem Schaukelstuhl.
»Wie geht es dir?«, fragt der Jüngere.
»Ich bin …« Wütend, will ich sagen. Wütend auf Peter, wütend auf die Amite. Aber das stimmt nicht, oder? Ich lächle. »Mir geht’s gut. Ich habe das Gefühl, als würde ich schweben. Oder schaukeln. Und wie geht es dir?«
»Schwindel ist eine Nebenwirkung des Serums. Vielleicht möchtest du dich den Nachmittag über ausruhen. Mir geht es gut. Danke der Nachfrage«, antwortet er. »Du kannst jetzt gehen, wenn du möchtest.«
»Kannst du mir sagen, wo ich Tobias finde?« Als ich an sein Gesicht denke, steigt Zuneigung in mir auf und der dringende Wunsch, ihn zu küssen. »Four, meine ich. Er sieht gut aus, nicht wahr? Ich weiß wirklich nicht, weshalb er mich so mag. Ich bin nicht so nett wie er, oder?«
»Nicht immer, nein«, erwidert der Mann. »Aber ich glaube, du könntest auch so nett sein, wenn du es versuchst.«
»Danke«, erwidere ich. »Nett, dass du das sagst.«
»Ich nehme an, er ist im Obstgarten«, erklärt er mir. »Ich habe ihn nach dem Kampf dorthin gehen sehen.«
Ich lache auf. »Der Kampf. Wie albern von mir …«
Es kommt mir wirklich ziemlich albern vor, jemandem die Faust in den Magen zu rammen. Es ist wie eine Liebkosung, die viel zu heftig geraten ist. Eine echte Liebkosung ist viel schöner. Vielleicht hätte ich stattdessen Peters Arm streicheln sollen. Das hätte uns beiden gut getan. Dann würden meine Knöchel jetzt nicht so brennen.
Ich stehe auf und will auf die Tür zugehen. Ich muss mich an der Wand festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, aber die Wand ist fest, also brauche ich keine Angst zu haben. Ich torkle den Gang entlang und kichere vor mich hin, weil ich taumle. Ich bin wieder so unbeholfen wie früher, als ich noch ein Kind war. Meine Mutter hat mich dann immer angelächelt und zu mir gesagt: »Pass auf, wo du hintrittst, Beatrice. Ich möchte nicht, dass du dir wehtust.«
Ich gehe nach draußen, und das Grün der Bäume kommt mir noch grüner vor, so intensiv grün, dass ich meine, es schmecken zu können. Vielleicht kann ich es ja wirklich schmecken, so wie das Gras, auf dem ich als Kind herumgekaut habe, nur so aus Neugier. Weil ich hin und her schwanke, falle ich beinahe die Treppen hinunter. Ich breche in lautes Gelächter aus, als das Gras meine nackten Füße kitzelt, und schlage den Weg Richtung Obstgarten ein.
»Four!«, rufe ich laut. Warum rufe ich eine Nummer? Ach ja. Weil er so heißt. Ich rufe wieder. »Four! Wo bist du?«
»Tris?«, höre ich eine Stimme rechts zwischen den Bäumen. Es klingt fast so, als würde der Baum mit mir reden. Ich kichere, aber natürlich ist es nur Tobias, der unter einem Ast sitzt.
Ich renne zu ihm, aber der Boden kippt zur Seite weg, sodass ich beinahe hinfalle. Zwei Hände fassen mich an der Taille und er stützt mich, damit ich nicht stürze. Die Berührung jagt einen Blitz durch meinen Körper, und meine Eingeweide brennen, als hätten seine Finger sie in Brand gesteckt. Ich schmiege mich an ihn und blicke hoch, um ihn zu küssen.
»Was haben sie –«, fängt er an, aber ich bringe ihn mit meinen Lippen zum Schweigen. Er erwidert meinen Kuss, allerdings so flüchtig, dass ich laut aufseufze.
»Das war lahm«, protestiere ich. »Okay, es war nicht lahm, aber …«
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn erneut, aber er legt mir den Finger auf die Lippen, damit ich aufhöre.
»Tris«, sagt er, »was haben sie mit dir gemacht? Du benimmst dich wie eine Wahnsinnige.«
»Das ist aber nicht sehr nett von dir«, beschwere ich mich. »Sie haben mir nur gute Laune gemacht, mehr nicht. Und jetzt will ich dich küssen, wenn du also ein bisschen lockerer sein könntest …«
»Ich werde dich nicht küssen. Nicht bevor ich nicht herausgefunden habe, was hier los ist«, sagt er.
Ich ziehe eine Grimasse, aber dann fange ich an zu grinsen, weil ich es endlich verstanden habe.
»Jetzt weiß ich, warum du mich liebst!«, rufe ich. »Weil du auch nicht sehr nett bist! Jetzt habe ich es kapiert.«
»Komm«, sagt er. »Wir gehen zu Johanna.«
»Ich mag dich auch.«
»Das ist ermutigend«, erwidert er trocken. »Komm schon. Um Himmels willen. Dann trage ich dich eben.«
Er hebt mich hoch, einen Arm legt er unter meine Knie, den anderen um meinen Rücken. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Dann entdecke ich, dass sich die Luft an meinen Füßen angenehm anfühlt, wenn ich strample, also zapple ich mit den Füßen auf und ab, während er mich zu dem Gebäude trägt, in dem Johanna arbeitet.
Als wir in ihr Büro kommen, sitzt sie hinter dem Schreibtisch über einem Stoß Papier und kaut auf einem Bleistift. Sie hebt den Kopf und bei unserem Anblick bleibt ihr der Mund offen stehen. Eine Strähne ihres dunklen Haares fällt auf ihre linke Gesichtshälfte.
»Du solltest deine Narbe nicht verstecken«, sage ich. »Wenn dir das Haar nicht ins Gesicht fällt, siehst du hübscher aus.«
Tobias setzt mich etwas zu heftig ab, der Ruck geht mir durch und durch und meine Schulter tut weh, aber das Geräusch, mit dem meine Füße auf dem Boden aufsetzen, mag ich. Ich lache, aber weder Tobias noch Johanna lachen mit. Seltsam.
»Was habt ihr mit ihr angestellt?«, fragt Tobias scharf. »Was um alles in der Welt habt ihr gemacht?«
»Ich …« Johanna sieht mich stirnrunzelnd an. »Sie haben ihr anscheinend zu viel gegeben. Sie ist sehr klein, wahrscheinlich haben sie ihre Größe und ihr Gewicht nicht bedacht.«
»Sie haben ihr anscheinend zu viel von was gegeben?«, fragt er.
»Du hast eine sehr hübsche Stimme«, sage ich.
»Tris«, sagt er, »bitte sei still.«
»Vom Friedensserum«, antwortet Johanna. »In kleinen Dosen wirkt es angenehm beruhigend und hellt die Stimmung auf. Nur manchmal können leichte Schwindelgefühle auftreten. Wir verabreichen es den Mitgliedern unserer Gemeinschaft, denen es schwerfällt, friedlich zu sein.«Tobias schnaubt. »Ich bin kein Idiot. Jedem Mitglied eurer Gemeinschaft fällt es schwer, friedlich zu sein, denn es sind auch nur Menschen. Wahrscheinlich versetzt ihr das Trinkwasser damit.«
Sie schweigt eine Weile, dann verschränkt sie die Hände vor dem Körper.
»Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt, andernfalls wären diese Spannungen gar nicht erst aufgekommen«, sagt sie. »Aber was immer wir hier auch beschließen, wir tun es gemeinsam, als eine Fraktion. Wenn ich dieses Serum jedem in der Stadt verbreichen könnte, würde ich es tun. Dann wärt ihr nämlich garantiert nicht in der Lage, in der ihr euch jetzt befindet.«
»Ja, klar doch«, sagt er. »Die gesamte Bevölkerung unter Drogen zu setzen, ist bestimmt die beste Lösung für unser Problem. Toller Plan.«
»Sarkasmus steht dir nicht, Four«, sagt sie nachsichtig. »Es tut mir leid, dass man Tris zu viel verabreicht hat, wirklich. Aber sie hat unsere Vereinbarung gebrochen, und ich fürchte, aus diesem Grund werdet ihr nicht länger hier bleiben können. Der Streit zwischen ihr und dem Jungen – Peter – lässt sich nicht so einfach abtun.«
»Keine Sorge«, erwidert Tobias. »Wir werden schnellstmöglich von hier verschwinden.«
»Gut«, sagt sie mit einem leisen Lächeln. »Zwischen den Ferox und den Amite kann es nur Frieden geben, wenn wir weiterhin auf Distanz bleiben.«
»Das erklärt eine Menge.«
»Wie bitte?«, fragt sie. »Was soll das heißen?«
»Es erklärt«, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen, »warum ihr uns unter dem Vorwand der Unparteilichkeit – falls es dergleichen überhaupt gibt – in den Fängen der Ken zurückgelassen habt, damit wir sterben.«
Johanna seufzt leise und blickt aus dem Fenster hinaus in einen kleinen Innenhof, in dem Weinstöcke wachsen. Die Reben klettern bis in die Ecken der Fenster, als ob sie hereinkommen und der Unterhaltung lauschen wollten.
»So etwas würden die Amite niemals tun«, widerspreche ich. »Das ist gemein.«
»Um des Friedens willen mischen wir uns nicht ein …«, setzt Johanna an.
»Frieden.« Tobias spuckt das Wort förmlich aus. »Ja, ich bin sicher, dass es sehr friedlich sein wird, wenn wir alle entweder tot sind, uns aus Angst vor einer Gehirnwäsche lieber gleich unterwerfen oder in einer nie endenden Simulation gefangen sind.«
Johanna verzieht das Gesicht, und ich ahme sie nach, um zu sehen, wie es ist, wenn man so ein Gesicht macht. Es ist kein sehr angenehmes Gefühl. Ich weiß überhaupt nicht, weshalb sie so etwas tut.
Langsam sagt sie: »Ich habe die Entscheidung nicht gefällt. Andernfalls wäre unsere Unterhaltung heute vielleicht etwas anders verlaufen.«
»Willst du damit sagen, dass du nicht mit dem einverstanden bist, was die anderen wollen?«
»Ich sage«, erwidert sie, »dass es mir nicht zusteht, meine Fraktion öffentlich zu kritisieren, aber vielleicht tue ich es ja in meinem tiefsten Inneren.«
»In zwei Tagen sind Tris und ich weg«, kündigt Tobias an. »Ich hoffe, deine Fraktion ändert ihren Beschluss nicht und macht aus dem Hauptquartier tatsächlich eine Zufluchtsstätte.«
»Unsere Beschlüsse kann man nicht so einfach ändern. Was wird aus Peter?«
»Mit ihm müsst ihr selbst klarkommen«, antwortet er. »Denn er wird uns nicht begleiten.«
Tobias nimmt meine Hand, seine Haut fühlt sich schön an, obwohl sie gar nicht weich und glatt ist. Ich lächle Johanna entschuldigend an, aber sie verzieht keine Miene.
»Four«, sagt sie. »Wenn du und deine Freunde auch weiterhin von dem Serum verschont bleiben wollt … dann solltet ihr die Finger vom Brot lassen.«
Im Gehen bedankt sich Tobias noch mit einem kurzen Kopfnicken, dann treten wir hinaus in den Gang. Ich hüpfe jeden zweiten Schritt.